vortrag/ lecture/ paper |
"Diffraktives Theater als onto-epistemologisches Schreiben" Keynote Gehalten 2023 an der Universität Lodz Tagung: Klimakrise und Theater" |
Der Begriff "Theater" leitet sich von dem altgriechischen Wort "theastai" (schauen, beobachten, erblicken) ab. Ich stelle mir vor, ich säße vor 2500 Jahren auf den billigen Plätzen, weit oben im Dionysostheater. Ich erblicke die Haine, die Heiligtümer und den Himmel. Wenn ich nach rechts an den Bergen vorbei schaue, sehe ich das Meer. Ich weiß, dass die Polis auf der rechten Seite ist, wenn jemand von links auftritt, wie jetzt die 50 weiblichen Geflüchteten, die Schutzflehenden, die vor der Zwangsheirat fliehen. Die Heiligtümer, sie blicken zurück: Vor mir das Heiligtum des Dionysos Eleutherus. Hinter mir, auf der Akropolis, das Athena-Heiligtum. Wer sich dem Altar der Athene mit einem Ölzweig nähert, dem wird Schutz gewährt. Über unsere Köpfe fliegen Störche, die Bewegungsfreiheit genießen, in V-Formation zu den Winterquartieren in den Süden. In der Ferne bellen Hunde. "Dérive" nenne ich dieses mäandernde Schauen und Staunen, während ich das Spektakel auf der Bühne weiterhin beobachte. Aber drifte ich ab? Ich möchte meinem Blickfeld mit dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty einen „Wahrnehmungsglauben“ unterstellen, „mit der Kraft des Anfänglichen und leibhaftig Gegenwärtigen“ ausgestattet. Und wenn die Amme bei Medea spricht „Oh wie ich wünschte die Argo wäre niemals nach Kolchis gesegelt, ich wünschte sie hätten nie die Pinien gefällt, in den Bergwäldern, um jenen großen Männern daraus die Ruder zu schnitzen...“ sehe ich in die Ferne und suche die Landschaft nach gerodeten Kahlflächen ab. Die Landschaft, in der wir Platz nehmen, als Pluralität von Agentien und Verflechtung von Blick- und Wahrnehmungsachsen, ist kein bloßer, passiver Hintergrund, wie es Una Chaudhuri am Beispiel des Sees in Chechovs Möwe beschreibt, sondern, so möchte ich annehmen, Co-Skript-Autorin. (...) Als die Skene immer größer wird, das Gebäude, das die Garderoben und das Bühnenbild beherbergt, als das Theatergebäude unseren Rundumblick schließlich einhegt, 2000 Jahre später nur noch den Himmel freilässt, diese fünfte Wand, wie in Shakespeares Globetheater, frage ich mich ob es ein Zufall ist, wenn Karl Marx von der Einhegung der Gemeingüter eben zu Beginn des 17. Jahrhunderts spricht. Ich frage mich ob das Theater diese Einhegung des Blickes nicht rückgängig machen kann, so wie die Aktivist:innen der damaligen Zeit, die Levellers, auch versuchten, die Zäune der privatisierten Land- und Viehwirtschaft wieder einzureissen. Damit diese Schaustätte namens Theater als Teil eines Kosmos begriffen werden kann, und der Mensch als Teil einer "freundlicheren Kosmologie" (Latour), die andere Lebewesen nicht aus dem Blick verliert. (Auszug) |
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on ACADEMIA |
breaking the fourth, fifth, sixth wall... on diffractive theatre /entangled lecture as part of: DIFFRACTIVE WOLRD-MAKING: THEATRE AND SCIENCE BEYOND THE CAPITALOCENE Conference at the Indiana University, Bloomington 10.-12.11.2022 Organized by Teresa Kovacs & Kevin Rittberger mit: Karen Barad, McKenzie Wark, Rebecca Schneider, Tavia Nyong'o, Karin Harrasser, Penda Diouf, Bini Adamczak and many more... |
mit Karen Barad an der Indiana University |
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Vortrag Die, die es betrifft und das, was noch passiert. Über Ko-Präsenz und diffraktives Theater Tagung: "Theater und pluralistische Gesellschaften" Villa Vigoni, 2022 |
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Das Wagnis des Weichbleibens Eva von Redecker im Gespräch mit Kevin Rittberger im Rahmen von Autonomie am Schauspiel Hannover |
Rittberger: Eva von Redecker ist Philosophin, Publizistin und Autorin. Du hast viele Aufsätze und Bücher geschrieben, zum Beispiel Revolution für das Leben und Schöpfen und Erschöpfen gemeinsam mit Maja Göpel. Es sei auch erwähnt, dass du das neue Vorwort für Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer verfasst hast. Nun aber zur Autonomie. Für mich braucht individuelle Autonomie einen inneren Kompass, Ruhe, eigenverantwortliches Handeln, Widerständigkeit, sie kann aber auch voller blinder Flecken sein, ignorant, eigennützig, kann den Zugang zu Privilegien unterschlagen. Diese Ambivalenz einzurechnen, würde das Fenster zur relationalen Autonomie eröffnen. Magst du dich zu dieser Differenz verhalten und sagen, ob du damit etwas anfangen kannst? von Redecker: Im Grunde sind sich ja alle Linken und Feminist:innen gegenwärtig einig, dass relationale Autonomie auf jeden Fall die Richtung ist, die eingeschlagen werden muss. Es gibt diesen rechtslibertären Wahnsinn, der gerade die Welt regiert und bei dem man denkt, frei sein bedeutet, allein auf seiner Scholle zu sein. Das ist ein Extrem von individualistischer Autonomie. Letztens hatte ich ein Gespräch mit dem zwölfjährigen Sohn eines Freundes, der meinte, am freiesten wäre er, wenn er allein auf dem Mars wäre. Und so sehr man das für falsch erklären kann, muss man doch eingestehen, dass diesem Absonderungsaffekt offenbar intuitiv etwas Freiheitsverheißendes innewohnt. Und es würde nicht viel nützen, jemandem einen anderen Freiheitsbegriff einzureden, wenn dabei das eigentliche Freiheitsempfinden vollständig auf der Strecke bliebe. Dass unsere moderne Freiheitsidee einen Anker in der individuellen Erfahrung hat, wird man nicht so leicht los. Und wenn man - wie das inzwischen auch alle vernünftigen Liberalen machen -, sagt, jaja es gibt individuelle Freiheit, aber die hat kollektive und relationale Bedingungen, dann kommt diese Relationalität für meine Begriffe häufig zu spät. Mich interessiert ein sozialer, ökologischer und pluraler Freiheitsbegriff, der erlaubt, dass man diese Erfahrung der Freiheit, diese Kern-Verheißung, um die es in der Befreiung geht, auch wirklich empfinden und erfahren kann. Als Fülle etwa, als Gegenteil der lebensfeindlichen Leere auf dem Mars. Wenn man es mit der relationalen Autonomie ernst meint, muss man es schaffen, dass die Beziehung nicht nur eine Bedingung der Freiheit ist, sondern ihr Erfahrungsspielraum. Damit meine ich, dass man in dieser Pluralität wirklich die Freiheit empfinden kann und dass die Beziehungen zu den anderen nicht Bedingung, sondern selber Entfaltungsräume der Freiheit sind. Das wäre die Aufgabe. Rittberger: Wenn man rechtslibertär einmal mit deiner Unterscheidung des Freiheitsbegriffes in Zusammenhang bringt - da gibt es einen positiven und einen negativen -, würde rechtslibertär doch bedeuten: ich bin frei und niemand pfuscht mir ins Handwerk, wenn ich zum Beispiel eine Waffe in die Hand nehmen will. Und der positive Autonomie-Begriff, den wir für die relationale Autonomie brauchen, wäre vielleicht: ich bin frei für etwas, ich bin autonom für etwas, ich kann mich entschließen, etwas mit anderen gemeinsam zu tun. Ist das das, was du auch gerade mit der Fülle meintest? von Redecker: Okay, dann schauen wir einmal auf das große Tableau: Ich würde sagen, es gibt sehr interessante Verbindungen zwischen der eurasischen Ideologie, die dem Putinschen Z-Faschismus unterliegt, und dem rechtslibertären alt-right Individualismus und Faschismus, aber das ist trotzdem nicht das gleiche Projekt. Die eurasische Ideologie beruht nicht primär auf Phantombesitz am eigenen Körper oder an der eigenen Eigentumsfreiheit, sondern auf Phantombesitz am kollektiven Besitz an Land, ist also eine Art heteropatriarchale Gesellschaft, in der bestimmte Hierarchien, Unterordnungen, Plünderungslogiken auf Dauer gestellt ist. Dieses eher kollektivistische Projekt ist ein Gegenmodell zum – so beschreibt der Putin-nahe Soziologe Alexander Dugin das –, durch die individuelle Freiheit dekadent gewordenen Westen. Der Ausweis der Dekadenz ist, dass es im Westen so viele Lesben, Schwule und Transmenschen gibt, was laut Dugin die automatische Folge davon sei, dass man überhaupt individuelle Freiheit gewährt. Wenn du sagst, die Leute sind frei, dann suchen sie sich am Ende ihr eigenes gender aus und dagegen helfe nur ein kollektivistisches, konstruktivistisch-faschistisches Projekt. Das Interessante ist ja, dass genau in dieser Obsession über gender als zu eliminierende Feindkategorie, sich die neue Rechte, inklusive der transfeindlich-feministischen, Weltsicht und die eurasische Ideologie super verstehen. Dennoch kann man glaube ich sagen, dass das Freiheitsprojekt bei den Rechtslibertären mehr im Zentrum steht und das patriotische kollektivistische Projekt mehr im Zentrum der eurasischen Ideologie. von Redecker: Ehrlich gesagt sehe ich die Fülle eher als einen alternativen Versuch, diese Debatte zwischen negativer und positiver Freiheit neu anzugehen. Weil mir nämlich scheint, dass es eine zu harmlose Rekonstruktion der libertären Freiheit ist, sie als negative Freiheit zu verstehen. Negative Freiheit – negativ nämlich durch die Abwesenheit von Zwang - zeichnet das Vertragssubjekt aus. Aber ich glaube, in dem was derzeit die rechte Mobilisierung treibt, sehen wir eben nicht ein rein negatives Projekt quaAbwesenheit von Zwang, sondern es ist ein gewissermaßen finster-positives Projekt, indem es sagt, es habe die Freiheit zur vollen Verfügung über bestimmte Objekte. Im Rechtslibertären geht es nie ausschließlich um den Selbstbesitz, sondern zum Beispiel auch um Waffenbesitz oder die Verfügung über Reproduktionsfähigkeit von Frauen oder über rassifizierte Körper, zum Beispiel zur Ausbeutung. Ich glaube, wir wollen als Linke ganz andere Subjekte sein - beziehungsweise gar keine klassischen Subjekte im Sinne des Selbsteigentümer-Subjektbegriffs, sondern soziale Lebewesen. Der Abbau von Privilegien muss von links ja selbst als Befreiung verstanden werden, auch frei von Phantombesitz zu sein, frei zur Vergemeinschaftung, frei dazu, in jedem Gegenüber auch sich selbst finden zu können, aber auf Augenhöhe. Rittberger: Jetzt hast du schon so selbstverständlich ein paar Begriffe fallen gelassen, zum Beispiel Eigentum, Sachherrschaft, Phantombesitz… Wie würdest du die mit dem Begriff der Autonomie in Verbindung bringen? von Redecker: Ich würde sagen, die Freiheit in der Moderne ankert im Paradigma des Eigentums. Die spezifische Freiheit, die das moderne Eigentum verheißt, bedeutet, dass man in einem bestimmten eingegrenzten Rahmen machen kann, was man will. Diese Vorstellung von Willkür bringt uns zurück auf das, was wir eben mit der negativen Freiheit hatten, also völlige Abwesenheit von äußerem Zwang, aber auch von inneren Normen. Die volle Freiheit der Beliebigkeit verheißen zu wollen, hängt von Anfang an als Muster mit der modernen Freiheit zusammen. Ich nenne das Sachherrschaft, wenn diese Beziehung, die eigentlich eine Herrschaftsbeziehung von einem Subjekt über ein Objekt darstellt zwischen Menschen stattfindet. Auch die Beherrschung der Natur kann als Sachherrschaft gesehen werden. Die Natur wird als Ressource betrachtet, über die man vollkommen frei und grenzenlos verfügen kann, bis hin zu Missbrauch und Zerstörung. Wenn man das nicht könnte, dann könnte man den Kapitalismus komplett knicken. Die ganze Idee, so effizient wie möglich und profitausgerichtet für den Markt zu produzieren, bedarf dieser extremen Mobilisierbarkeiten und Beliebigkeit, die das Eigentum erstmal stiftet und legitimiert. Wenn ein einzueignetes Objekt durch gelungene Emanzipation nicht mehr ohne weiteres verfügbar ist, dann entsteht Phantombesitz, der versucht, irgendwie die Souveränität des Eigentümers, die als Freiheit missverstanden wird, wiederherzustellen. Und gerade weil dem nicht so richtig etwas entspricht, ist die sicherste Nummer, immer zu testen ob man ins Extrem gehen kann, nämlich in die Zerstörung. Bei den ganzen Debatten um Meinungsfreiheit sieht man ziemlich gut, dass rechte Leute sich nur noch sicher sind, die Meinungsfreiheit inne zu haben, so lange sie jemanden beleidigen und etwas kaputt machen können. Diese Zerstörungsdimension ist nicht einfach eine unmenschliche Aggression und auch kein Zufall, sondern bewegt sich in den Bahnen solcher Sachherrschaftsgeschichten von Eigentumsansprüchen, die eigentlich schon überwunden sind, aber dann umso mehr zurückkommen, weil man sich in der Zerstörung als funktionierender souveräner Eigentümer erfahren kann. Wenn ich sie schlagen darf, dann war's wohl meine Frau. Das ist die volle Perversion der Logik des Phantombesitzes und die dunkle Unterseite der eigentlich ganz noblen individualistischen Freiheit. Und auch wenn wir als Linke individuelle Freiheit nicht wollen, ist es wichtig zu sagen, dass es eine aufgeklärte und eine faschistische individuelle Freiheit gibt und die vertragsnegative Freiheit nicht auf dieselbe Art fatal ist wie die Eigentümerfreiheit, die uns im Moment so krass auf die Füße fällt. Rittberger: Um es nochmal so konkret zu machen: Während der Pandemie ist die häusliche Gewalt angestiegen, haben hauptsächlich Frauen Sorgearbeit verrichtet oder schlecht bezahlt in der Pflege gearbeitet, haben migrantisch gelesene Menschen mehr "Shit-Jobs" gemacht und seltener im Home-Office arbeiten dürfen als die Mehrheitsgesellschaft. Würdest du sagen, dass dadurch der Phantombesitz auch wieder gewachsen ist und wir wieder näher an die Sachherrschaft gerückt sind? von Redecker: Ja und ich glaube, das kann man auch nochmal so rekonstruieren, dass dieser Phantombesitz immer eine Art von Kompensation oder auch Trostpreis ist, den es im Kapitalismus - wo die Vielen verlieren und nur wenige gewinnen - eigentlich immer braucht, um den relativen Verlierer trotzdem zu kompensieren und Sicherheit herzustellen. Ich glaube, dass eine Krisenphase wie die Pandemie den Druck stärker werden lässt, wieder Autorität zu akkumulieren und Beziehungen zu verdinglichen. Rittberger: Du nennst dies in deinem Buch ja „Kapitalismus als Spaltungswerkzeug“, damit die, die sich eigentlich verbünden könnten, gegeneinander ausgespielt werden können. Ich möchte nun mal zwei unterschiedlichen Zeitmaße ansprechen. Auf der einen Seine, Dinge, die die Mehrheitsgesellschaft erst langsam verlernen kann, vielleicht lebenslang, etwa Bilder von Männlichkeit und Überlegenheit, und dann ist da auf der anderen Seite die notwendige Eile, wenn wir uns etwa den Countdown anschauen, dass bereits in 7 Jahren das Co2 Budget aufgebraucht sein wird, wenn wir das 1,5 Grad Ziel noch einhalten wollen. Du hast einen Revolutionsbegriff, der sich abwendet von einem einzigen Revolutionsereignis, dem, was bei Engels „Kladderadatsch“ hieß. Also: Der Kapitalismus bricht zusammen und danach werden wir schon alle Herrschaftsformen überwinden. Du hingegen sagst, dass wir nicht auf die Wirkung der Revolution warten müssen, weil jetzt schon genügend solche Momente da sind, Situationen, Relationalitäten, Anfänge von Gemeinschaften und Kollektivitäten, die sich verbinden und ausweiten lassen. Du drehst also dieses Ursache-Wirkungs-Verhältnis um. Somit ist dein Revolutionsbegriff viel langwieriger, oder? von Redecker: Wirkt auf den ersten Blick so, als wäre er unzureichend, oder? Vielleicht sollten wir erst einmal dort beginnen, dass ein Handlungsdruck wie beispielsweise die Klimakrise, die nicht individuell anzueignen und zu beherrschen ist, uns daran erinnert, kooperieren zu müssen. Die ökologische Revolution im Moment ist mehr als Re-Subjektivierung, und funktioniert überhaupt nur, indem man bestimmte Praktiken der Zerstörung nicht nur aussetzt, sondern umkehrt. Was wir lernen müssen, ist eine ganz andere Art zu arbeiten, ist eine Art von der Reproduktions- und auch der Regenerationsarbeit ausgehend. Es ist nicht nur Reichtum umzuverteilen, sondern wir müssen uns auch der Gifte und Emissionen annehmen, die sich ausgebreitet haben. Deswegen ist mein Begriff für den Akt der Revolution im Moment „Weltwiederannahme“. Damit meine ich, dass wir uns dem Unterworfenen, dem zum Eigentum gemachten und in die Atmosphäre gepumpten annehmen müssen. Dass dieser Vorgang lange dauert, ist klar. Mir ist ein schwächlicher, langsamer Revolutionsbegriff lieber als gar keiner oder ein messianisch-apokalyptischer, der denkt irgendwann knallt's und dann wird alles besser. Daran glaube ich nicht. Rittberger: Diese Revolution müsste zunächst aus uns selbst herauskommen. Es gäbe dafür keine Incentivierung, keine Partei oder Planwirtschaft, die uns Credits oder Anerkennung gäbe. Es handelte sich um selbstorganisierte, selbstgewählte oder selbstverwaltete Tätigkeiten. von Redecker: Genau, aber weil du gerade das Stichwort der Incentivierung genannt hast, möchte ich noch ergänzen, dass Sinn der menschheitsgeschichtlich größte Driver überhaupt ist. Wir sehen auch im Moment, dass viele Leute ihre Arbeitsplätze verlassen und viele sich, sofern sie es können, aus Lohnarbeit rauswinden. Es ist klar, dass selbst verheißungsvolle bürgerliche Karrieren an Sinn verloren haben. Es gibt so gut wie keine Institutionen mehr, die nicht neoliberal verhunzt sind, sodass es einen großen Anreiz gibt, etwas Regenerierenderes, Sinnvolleres zu machen. Man muss die Wälder erst einmal besetzen, bevor man sie zum Mischwald machen kann, der mehr Regen freisetzt und weniger Waldbrandgefahr hat und erst recht keine Autobahn ist. Rittberger: Du hast das Vorwort geschrieben für die Dialektik der Aufklärung und ich habe da einen ganz wunderbaren Begriff gefunden, „das Wagnis des Weichbleibens“, den du aus dem Oktopus ableitest, der sich enwicklungsgeschichtlich vor 600 Millionen Jahren anders entwickelt hat als wir Menschen. Der Oktopus hat sich keine Krusten, Schalen und Panzer zugelegt und ist weich geblieben. Du hast diesen Begriff vielfach benutzt „das Wagnis des Weichbleibens“ und mir scheint, dass dieser gerade ins Herz der Gegenwart trifft. Dem hinzugefügt hast du auch den Wunsch, dass Menschen sich trauen, ebenfalls ihre Panzerung abzuwerfen. Jetzt erleben wir in diesem Sinne gerade wieder eine Art Rückschritt, denn gerade handelt alles von Waffenlieferungen, davon, sich zu panzern und wieder wehrhaft zu werden. Wie siehst du dieses Wagnis des Weichbleibens inmitten dieses Aufwinds der Notwendigkeit der Bewaffnung? von Redecker: Wenn es leicht wäre, wäre es ja kein Wagnis. Deswegen muss man schauen, wann es geht und wann nicht. Das Wagnis des Weichbleibens ist ein Appell gegen die Werhaftigkeit als Selbstzweck und das ist etwas anderes als die Notwehr und Selbstverteidigung im Fall des Angegriffenwerdens. Mir scheint, dass in einem Moment von wirklich ultimativer Erschöpfung – wie sie die kapitalistische, lebensgrundlagenzerstörende Wirtschaft erzeugt - zwei Abzweigungen gibt: Zur Regenerierung, zur Ko-Verletzlichkeit und Solidarität oder in die Härte, in die Opferlogik, in der man sagt, so ist es eben, ich erkläre die Erschöpfung zum Teil des Realitätsprinzips: „manche werden eben nicht durchkommen, das ist die Natur“. Und diesen Oktopus benutze ich gewissermaßen als Bild einer anderen Natur, als Allegorie für das, was bei Adorno und Horkheimer das „Gegenbild zu instrumentellem Verlust“ ist, nämlich die sogenannte Mimesis. Sie sprechen die ganze Zeit von Verhärtung im Überlebenskampf, bei dem man sich gewissermaßen an die fiesen Kräfte angleicht. Dabei geschieht, was man psychoanalytisch „Identifikation mit dem Aggressor“ nennt. Der Gegenbegriff dieser Seite der Verhärtung ist dieses sehr schillernde und schwer greifbare Bild einer mimetischen Reflexion. Mimesis kann verschiedenes heißen, zum Beispiel Nachahmung und Kopie. Doch der Kern dieses Begriffes bei Adorno und Horkheimer ist ein anderer, nämlich so etwas wie die Hingabe an das Gegenüber oder das Aufgehen in anderen. Das Wagnis des Weichbleibens ist auch immer das Wagnis des Selbstverlustes. Vorhin sprachen wir von der Logik des Eigentums, die drastisch zwischen Subjekt und Objekt trennt, und man kann sagen, dass die Idee der Mimesis dazu ein Gegenmodell ist, eines wo Subjekt und Objekt ineinander übergehen, im Kontakt sind, aber auch zugleich im unbewussten Abgrenzungsbemühen stecken stehen. Durch seine Weichheit, sein ständiges Form-Verändern hielt ich den Oktopus für eine schöne Versinnbildlichung von dieser Idee der Mimesis. Rittberger: Mimesis muss ja nicht immer Nach-Ahmung sein. Es kann ja auch Vor-Ahmung bedeuten! von Redecker: Oder Um-Ahmung! Rittberger: Um-Ahmung, genau! Und beim Oktopus fällt ja auch die Wandlungsfähigkeit ins Gewicht. Aber ich möchte dich nochmal als Revolutionstheoretikerin ansprechen, die ja sehr viele der Protestbewegungen der letzten Jahre weltweit begleitet hat. Wie würdest du den Begriff der Autonomie verorten? Nehmen wir etwa „Ni una Menos“ und dann die Gründung einer Gewerkschaft bei Amazon in Staten Island! Wie entsteht eine Bewegung, die transnational etwas erschüttern kann? von Redecker: Damit aus etwas eine Revolution entstehen kann, braucht es die richtigen Verbindungen verschiedener Punkte und der aktivistischen Praktiken untereinander. Distribuierter Sozialismus beispielsweise beschreibt eine bestimmte Art, Verbindungen untereinander zu ziehen. Es gibt den Versuch, zwei Alternativen hinter sich zu lassen, nämlich die Alternative der völligen Dezentralität, wo sozusagen lauter kleine einzelne Wellen unabhängig voneinander agieren, und den Zentralismus, in dem alles auf einen Punkt zusammenläuft. Das wären zwei Arten, Verbindungen zu ziehen und Kollektive, Parteien, Bewegungen zu organisieren. Die Idee des Distribuierten ist, dass es horizontale Verbindungen von möglichst vielen Punkten ohne ein Zentrum gibt. So ist das Internet als Kommunikationsinfrastruktur entstanden. Inzwischen sind die Datenflüsse durch Plattformkraken wieder sehr zentralisiert, aber als Kommunikationsnetzwerk hat es im Grunde genau diese distribuierte Struktur. Das ist auch eine Abstraktion des Modells der Rätedemokratie, wo man versucht, ganz verschiedene Bereiche der Gesellschaft immer in ihren jeweiligen Gremien zu organisieren und dann die Delegierten wieder miteinander in Kontakt zu bringen. Diese Verbindung zu stiften, ist dann sozusagen eine organisatorische Frage der Revolution. Und ich glaube, die Autonomie käme dann als Ziel und Methode hinzu, denn wir streben ja eine freie Gesellschaft an, also nicht nur eine befreite Gesellschaft, die die Herrschaft lediglich losgeworden ist, sondern eine, die immer größere Freiheit schafft. Dafür braucht man eine bestimmte Vorstellung von Freiheit und ich finde es schön, diese zeitlich zu denken, als Fülle von Zeit und von Möglichkeiten, seine Zeit zuzubringen. Je reicher Beziehungen sind, je mehr Verbindungen es gibt, je reicher eine Arbeitstätigkeit ist, desto mehr Möglichkeiten bieten sie und desto mehr findet man sich in ihnen wieder. Ich finde deinen Begriff Autonomie nicht als Selbst-Gesetzgebung, sondern als Selbst-Übereinkunft zu konzipieren, super schön. Wie kann ich so leben und in Beziehung stehen, dass ich durch diese Tätigkeiten, durch diese Verbindung, auch in Übereinkunft mit mir selber komme? Das ist, glaube ich, ein Rezept der Freiheit. Und damit das Revolutionäre gelingt, braucht es nicht nur Organisationsarbeit, sondern auch so etwas wie die günstigen Umstände, in denen das, was im Kleinen schon geübt ist, auf weitere Bereiche der Gesellschaft überschwappen kann. Aber das kann man oft nicht planen und deswegen muss man auch in den Zwischenräumen festhalten an solchen anderen Modellen in der Hoffnung, dass man sie irgendwann übertragen kann auf die allgemeine Ebene. Rittberger: So wie du es gerade schilderst, geht es auch darum, sich nicht mit diesem Status Quo abzufinden, sondern den Begriff von Demokratie und die Selbstübereinkunft permanent zu überarbeiten. von Redecker: Ich finde das mit der Übereinkunft schön, weil das in sich das Zusammenkommen sowie auch das Einvernehmen trägt. Außerdem erinnert es an eine denkende Freiheit, so wie bei Hannah Arendt das Denken das Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst ist und man folglich immer mit sich selber im Einvernehmen stehen muss, um zu wissen, wie man handeln will. Bei dieser Selbstübereinkunft schwingt auch die große Freiheit mit, überhaupt mit sich selbst leben zu können. Aber es braucht viel Arbeit und Glück und gute äußere Umstände, damit die Übereinkunft möglich ist. Rittberger: Vielen Dank für dieses schöne Gespräch |
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score | CODECODE (Anna Halprin
gewidmet) |
LFB
(Literaturforum
im
Brecht-Haus) 1000 SCORES (english version) |
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stück- abdruck |
SCHWARZER BLOCK UA 2020 am Maxim Gorki Theater Berlin |
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IKI. radikalmensch NOMINIERT FÜR DEN MÜLHEIMER DRAMATIKERPREIS 2020 EINGELADEN ZU RADIKAL JUNG |
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gespräche |
WOHIN WILL DAS THEATER? KEViN RITTBERGER im Gespräch mit dem Syndikalismusforscher HELGE DÖHRING über Mitbestimmungsmodelle am Theater |
NACHTKRITIK |
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artikel | MASSENSABOTAGE
WILLKOMMEN? ÜBER ANDREAS MALMS BUCH "KLIMA/X" |
BERLINER
ZEITUNG |
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AUGENHÖHE ODER
APOKALYPSE? |
THEATER
HEUTE |
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GESCHICHTE REPARIEREN! |
SPRINGERIN |
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bücher |
ORGANISATION/ ORGANISIERUNG FATZER BÜCHER Band 6 |
NEOFELIS VERLAG |
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Liberté de
Circulation, Toujours (Lecture Performance) |
BRECHT
JAHRBUCH 45 |
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essay | KEVIN RITTBERGER/ NICOLAS
MORTIMER AMLO - SOZIALISTISCHE KYBERNETIK IN DER DDR BERLINER GAZETTE |
Berliner Gazette | |||
artikel (bis 2019) |
DAS
PROBLEM
MIT RECHTSLINKEN THEATER FÜR BEVÖLKERUNGEN! zweiteiliger Essay, 16. und 22.1. 2019 |
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FURTHERFIELD
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MIT NACHAHMUNG FANGEN COMMONISTINNEN WENIG AN IMMITATION IS OF LITTLE USE FOR COMMONISTS |
DIE SPRINGERIN CREATING COMMONS (ZHDK ZÜRICH) |
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SCHLUSS MIT DEM GOTTES-TRICK! 21.Dezember 2018 WER HAT ANGST VORM FLÜCHTLING 26. Juni 2018 WAS DIE WELT RETTET 1 WAS DIE WELT RETTET 2 19.Mai 2018 DIE TALFAHRT DES WEISSEN MANNES 15. 3. 2018 VOM GUTEN LEBEN FÜR ALLE 2. Februar 2018 DIE FREIHEIT DER FRAUEN 2. Januar 2018 VON MENSCHEN UND ANDEREN VIECHERN 8. Dezember 2017 |
Berliner Zeitung | ||||
VORWÄRTS ZUR NATUR? DIE LIBERALE DEMOKRATIE WILL UNBEDINGT MIT IHREN RECHTEN TOTENGRÄBERN REDEN WIDER DIE ADVOKATEN DER ALTERNATIVLOSIGKEIT RICHTIGE DEUTSCHE STADTTHEATERKUNST ... nachtkritik 2015-2020 |
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IF
YOU
DON'T
ORGANIZE YOURSELVES... academia.edu |
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prosa |
ARGLOSIGKEIT |
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Das
Buch ist erschienen im Textem Verlag Textem Web |
Lesungen: München, 13.4., Favorit-Bar, mit Michael Hirsch Hamburg, 23.7., Deutsches Schauspielhaus, mit: Ute Hannung, Max Probst, Sonja Hornung, Martin Howse Berlin, 6.10., Spike Art, mit: Ludwig Haugk sowie Laura Lopez Castro & Lukas Lonski |
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Artikel
in
wissenschaftlichen
Publikationen:
Siehe
CV HIER |
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TEATRO DI ROMA |
Kassandra (o del mondo come fine della rappresentazione) mai 2018 as part of FABULA MUNDI |
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THEATRE OUVERT PARIS |
CASSANDRA OU LA FIN DE LA REPRÉSENTATION EN THEATRE OUVERT |
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Recherche Link Goethe Institut |
Stafford Beer KIDZANIA - Neoliberales Edutainment unter Tage Artikel lesen im Freitag/ Community Link |
CYBERSYN 9/11 in Chile. Zum 40. Todestag von Cybersyn Salvador Allendes Versuch einer kybernetischen Revolutionierung der Politik des demokratischen Sozialismus wurde vor vierzig Jahren gewaltsam beendet. Video sehen auf VIMEO Artikel lesen im Freitag/ Community Link |
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CANDIDE. ACTING IN
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Uraufführung 1.3.2013 Düsseldorfer Schauspielhaus |
AIC I ZUSAMMEN ARBEITEN, GEMEINSAM HANDELN. DIE TÄTIGKEITEN UND DINGE, DIE MAN HERSTELLEN KANN, BESCHRÄNKEN SICH KEINESFALLS NUR AUF DEN GARTEN: STROM, ORANGEN, ZEMENT, ZUCCHINI, DIE BETA-VERSION EINES TRAKTORS, KARTOFFELN, ZEHN FEINE FINGER, ERBSEN UND SÜßLUPINEN, ASYMMETRIE, ZIEGEL, OPEN-SOURCE-BAUPLÄNE UND -KOMMUNIKATION, DATTELN, LOKALE FABRIKATOREN, VIEHZUCHT, FUßABDRUCK, TOMATEN UND ZWIEBELN, ASSOZIATION, AUBERGINEN, WASSERAUFBEREITUNG, DREI KLEINE VERABREDUNGEN, ROTATIONSPRINZIP USF. AIC II Lob der Arglosigkeit Aktion Vom Acker in den Futtertrog Eiweißinitiative Ist ein Handgriff keine Phrase Wir stellen was zusammen her Das was gebraucht wird Gedanke Ein Ende und ein Anfang Aktion Erde umbrechen/ Scheiben Unkraut umwerfen/ wie ein Wall Hier! Kleines Tütchen mit dreißig Samenkörnern Alte Sorte Weizen Nicht manipuliert/ gerettet Da! Die Ackerbohne in der Feldflur Wir erkennen sie wieder Da! Die Erbse Da! Der Klee Da! Die Luzerne Da! Die Süßlupine Her mit dir, du zottige Wicke Das sind Leguminosen In jeder Ecke wächst was Unser Acker ist solidarisch Wir haben Freunde auf der ganzen Welt Und denkt an den Vorfruchtwert Wie sich der Winterweizen freut Und das ohne Stickstoffdünger Arglosigkeit praktizieren Mit Hand und Fuß Vertrauen vorschießen Traktor selbst ausgedruckt Fabelhaftes Labor Hat nichts Urtümliches Leguminosen Sind entmystifiziert Kein Blut klebt am Boden Hat auch nichts Eigentümliches Kein Gehege und kein Grundbuch Leguminosen Sind kollektiviert Keine Brauchtümer Keine Volkstümer Keine Außenseitertümer Und keine Ungetümer Leguminosen Sind enttümelisiert (...) Eine Gräfin fortgeschrittenen Alters Ist zu uns gestoßen Sie berichtet von Einer Assoziation in Eller Ihre feinen Hände wedeln dazu In Orange-roten Gummihandschuhen Eine Assoziation in Eller? Ja, Siedlungegemeinschaft Bauplan von 1921 Hier in Eller? Ob man helfen könne Nicht das gleiche wie damals Gestrüpp beiseite Und was Neues bauen Klar können wir helfen Wir kommen vorbei Nächsten Monat Überproduktion stoppen Ist ein Gedanke kein Spruchband Sechs Fuß tiefer Lohnarbeit Wir werden unseren Garten bestellen Ja das werden wir alle Einer hat ein Bild gemalt Pro Tag zwei Stunden Arbeit nötig Es ist ein lustiges Bild Es wird lange dauern Fangen wir also an Zusammen Es ist das Einfache Das schwer zu machen ist Hab ich das schon gesagt? Das ist es Es ist das Einfache Das schwer zu machen ist Und kommt mir nicht mit Urheberrechten Die hier nichts brächten Mein Geist ist dein Geist Hundert Prozent Zum Wohl |
CULTIVER JARDIN? (ferney-voltaire, 2012) CULTIVER JARDIN? (marinaleda, 2012) CULTIVER JARDIN? (occupy cuvry, 2013) CULTIVER JARDIN? (europe, 2007-????) CULTIVER JARDIN? (neuquén, 2013) |
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Uraufführung 1.2.2013 Schauspiel Frankfurt/ Frankfurter Positionen / LAB |
KIMBERLIT.
Ein Bestiarium |
(R: Samuel Weiss; mit Lisa Stiegler, Vincent Glander und Mattis Reinhard) |
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Uraufführung 10.4.2013 Schauspielhaus Wien |
PLEBS CORIOLAN AUSHEGERIN Einem anderen, dem das Haus morgens fehlte, weil ihn sein Schlüssel zu einem Schloss führen musste, das zu einer anderen Tür gehörte, einer anderen Wohnung, einem anderen Haus, musste seinerseits für das fehlende, ihm wegbefehligte Haus nun gerechnete vierhundert Jahre Schulden zahlen, dabei wurde ihm schlecht. Als er sich erholte, indem man ihm einen Eimer Regenwasser über das Gesicht leerte, hatte er einen Helm auf und schoss, wenn ihn der Finger juckte. Zusammen mit den anderen, denen man nun Heimatgefühle, Gehorsam und andere Flausen einimpfte, rollte er ein Pulverfass einen steinigen Weg entlang, hinauf bis in Wolkennähe. Der Mann, der sich vergeblich haushohe Heimaten vorzustellen versuchte, nahm einen kleinen Garten in Augenschein, der von der allgemeinen Kargheit verschont geblieben war und pflückte sich unbemerkt Tomaten und Pfirsiche in die Tasche. Noch bevor die ganze Truppe das Pulverfass ins Tal richtete, das den Feind enthielt, wie man landläufig annahm, hatte der einzelne sich drei vom Platzen bedrohte Tomaten einverleibt, die ihm wohl schmeckten. Bevor er sich mit dem Gürtel Munition am Pulverfass verhakte, hatte er einem Kameraden aus schlechtem Gewissen die Pfirsiche geschenkt. Bevor er mitsamt dem Pulverfass den Abhang hinabdonnerte, erfuhr er noch, dass der Feind gar kein Feind sein konnte. Nun, er hatte Glück und kam auf einem Feld nahe der Dorfkirche zu Stehen, mit einigen Blessuren zwar, das Fass aber blieb heil. Keine Detonation. Er war noch im Begriff sich den Dreck abzuschütteln, als ihm eine Ladung Schrot in den Bauch fuhr, zwar von einem Freund abgefeuert; jener hielt sich aber für den Feind. Der Irrtum, der sich wiederholte und hunderttausendfach in die Erde einschrieb, trug in diesem einen Fall Früchte. Die Mahlzeit gärte. Aus dem Bauch des Kämpfers wuchs ein Tomatenstrauch, ein paar Monate später in der Blüte stehend. Die Sommerhitze hatte die Leibeshöhle zum Platzen gebracht; und so kann eine Pflanze zunächst zart, später baumstark aus dem Inneren eines Menschen aufkeimen. Ich fand diesen anderen, der sein Haus verlor, im letzten Fühjahr. Ich hatte nichts zu fressen und so aß ich die Früchte seines Leibes, rot und saftig. Nun wisst ihr um den Geschmack des Ganzen. Die Geschichte macht indes ihre Runde. Allerorten werden Teppiche aus Leichen aufs Feld bestellt, um die nächste Saat einzusetzen. Was hätte jenen, den Außerhausbefohlenen, wohl bewegt, hätte er ums Ende früher gewusst? Wehe dem, der ohne Obdach. (Auszug aus: II NEWS FROM SOMEWHERE) |
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PUPPEN von kevin rittberger uraufführung am schauspielhaus wien 6. 10. 2011 regie: robert borgmann schauspielhaus.at deutsche erstaufführung am düsseldorfer schauspielhaus 15.12.2011 regie: kevin rittberger düsseldorfer chauspielhaus |
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BUCHPREMIERE PUPPEN - DREI STÜCKE Bestellen |
-Eine Philosophie, in der
nicht zwischen den Seiten das Elend der Welt
hinausschreit, ist keine.
-Ach. Und wenn das Geschrei keiner mehr hören kann!? -Du meinst akustisch? Dann lauter, höher, schriller brüllen. Andere Kanäle finden. -Man muss das Elend vom Hörerlebnis trennen. Elend ist still und soll still bleiben. Einmal ausgedrückt, schon kommt es in den falschen Hals. -Dann Halsabschneiden. -Sag ich ja. |
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KASSANDRA ODER DIE WELT ALS ENDE DER VORSTELLUNG von kevin rittberger uraufführung am schauspielhaus wien 1. 4. 2010 regie: felicitas brucker schauspielhaus.at deutsche erstaufführung am deutschen schauspielhaus in hamburg 21. 11. 2010 regie: corinna popp schauspialhaus.de EINLADUNG ZU DEN MÜLHEIMER THEATERTAGEN 2011 stücke.de Kassandra ou Le Monde comme Fin de la Representation 27. 3. 2013 afrikanische erstaufführung am goethe institut in lomé, togo überetzung und regie: koku nonoa Information auszug: SIN PAPELES/ Hunderte verschiedene Geschichten oder doch die gleichen? Da ist die Geschichte eines Kameruners, der in der Sahara unter einem Akazienbaum verdurstet, die keiner erzählt. Das ist die Geschichte eines spanischen Fischers, der uns den Unterschied zwischen einer Patera und einem Cayuco erzählen könnte. Das eine Boot ist aus Holz und klein und das andere aus Stahl und größer. Auf das erste passen 50, auf das andere vielleicht 300 Menschen. Das erste ist definitiv nicht hochseetauglich und auch auf letzterem würde er niemals 900 Kilometer zurücklegen wollen. Da ist die Geschichte einer Frau aus Guinea-Bissau, die auf einer Patera auf halber Strecke nach Fuerteventura ihr Kind bekommen hat. Da ist die Geschichte eines inzwischen zwanzigjährigen, marokkanischen Jungen, der sieben Mal mit der Patera auf den Kanarischen Inseln angekommen ist, weil er sechs Mal zurückgeschickt wurde. Einmal ist das Boot kurz vor der Küste abgesunken. Er hat als einziger überlebt. Ansonsten wissen wir nichts über ihn. Da ist die Geschichte von Babe, einem hübschen Jungen aus dem Senegal, der mit fünfzehn eine Woche auf dem Boot nach Teneriffa verbracht hat, dort eine kurze Zeit in einem Lager war, Papiere bekommen hat, aufs Festland ausgeflogen wurde und nun eine Ausbildung zum Caterer machen darf. Mehr hat er nicht erzählt. Da ist die Geschichte einer Frau aus Kamerun, die ihr Studium abgebrochen hat, ihrem Mann nach Spanien nachgereist ist, immer noch geschlagen wird, sich einer Organisation anvertraut hat und sich nun von ihrem Mann trennen möchte. Was sie hier arbeitet, möchte sie uns nicht erzählen. Man würde, dort, wo sie herkommt, sowieso nicht über sich sprechen, höchstens über die anderen. Sie sagt uns aber: Ich bin in Europa zwar weniger wert als Mensch, aber mehr als Frau. Da ist die Geschichte eines Mannes aus Elfenbeinküste, der während der Überfahrt an die Patera gefesselt werden musste, weil er sonst auf Grund von Dehydration und damit einhergehender geistiger Verwirrung ins Meer gesprungen und ertrunken wäre, der dann Wundbrand bekommen hat und dem man nun einen Arm amputieren musste. Immerhin könne er noch gehen, erzählt er weiter, einem Mann aus Mali, der auf einer anderen Patera, wenige Tage nach ihm, auf Teneriffa angekommen sei, hätten sie beide Füße amputieren müssen, weil er während der ganzen Fahrt in einer giftigen Brühe aus Dieselöl und Salzwasser gestanden sei. Da ist die Geschichte von Eli, einem senegalesischen Schauspieler mit Augenkrankheit, der vor fünf Jahren mit einem Visum nach Europa gekommen ist, nun in einer blinden Theatergruppe spielt, die sich „Die Elf“ nennt und als Sozialarbeiter Grundschüler in Valencia über Menschen mit Migrationshintergrund aufklärt. Das erste, was die Schüler wissen wollen, ist, ob sich die dunkle Hautfarbe abwaschen lässt. Er kennt die meisten Senegalesen, die hier am Strand bei Sonnenuntergang DVDs, Taschen und Uhren verkaufen. Er, der das Privileg hatte, mit dem Flugzeug zu kommen, er, der Papiere und eine anerkannte Arbeit hat, er, der seine Augen bald einer weiteren Operation unterziehen wird, er kennt sie alle, die Geschichten, die wir so dringend hören wollen. Aber mehr möchte er nur gegen einen Stundenlohn von 50 Euro erzählen. Da ist die Geschichte einer schwangeren senegalesischen Frau mit einem zweijährigen Kind, die an der Strandpromenade Zöpfe flechtet und uns nicht versteht. Da ist die Geschichte von eines Mannes aus Burkina Faso, der während der Sommermonate in Lleida Pfirsiche und Birnen erntet, dessen Bruder im vorigen Jahr auf der Fahrt nach Fuerteventura ertrunken ist und der in Malaga monatelang auf ihn gewartet hat. Diese Geschichte ist doch da, oder? Da ist die Geschichte eines baskischen Wasserhundes, der in Bilbao bei schönem Wetter aus dem Fenster gesprungen ist, die wir an dieser Stelle nicht erzählen werden. Da ist die Geschichte von Folu, einem Anfang zwanzigjährigen senegalesischen Fischer, dessen Fahrt nach Europa problemlos war und sechs Tage gedauert hat und der nun nicht mehr aufs Meer hinaus fahren darf, da er, wie alle anderen auch, die hier den Touristen gefälschte Marken-T-Shirts verkaufen, keine Arbeitserlaubnis hat. Während er davon erzählt, nähern sich zwei Polizisten, was sich der Gruppe Senegalesen schnell mitteilt. Rasch werden die Waren zusammenpackt, man eilt davon, versteckt sich und wartet, bis die Luft wieder rein ist, um an der gleichen Stelle oder woanders sein Tuch wieder aufzufalten. Da ist die Geschichte von Murfal, einem fünfundzwanzigjährigen Senegalesen, der auch mit dem Boot gekommen ist, mit Babe und sechs anderen in einem kleinen Appartement wohnt, der nur im Sommer als Strandverkäufer arbeitet, ansonsten in Madrid wohnt, dort Freunde und Arbeit hat, sich selbst als jemanden bezeichnet, der keine Probleme habe, dem es gut gehe, weil ihm eine Organisation sehr geholfen habe. Es kämen nur wenige, bis gar keine afrikanische Frauen nach Europa. Die Männer seien diejenigen, die von zuhause weg gingen. Die wenigen Frauen, die hier säßen, hundert Meter weiter, und Zöpfe flechten, würden niemals reden, ihre Kultur würde ihnen das verbieten. Wir versuchen ihn dreimal tagsüber zu treffen, um seine Geschichte aufzuschreiben. Er sagt jedes Mal ab. Da ist die Geschichte von … , einer dunkelhäutigen Frau, die sich, zusammen mit drei anderen Afrikanerinnen, in einem Häusereingang nahe der Autobahn schminkt, unerzählt. Da ist die Geschichte von Omar aus Dakar, der zwanzig Brüder und Schwestern von drei Müttern und einem Vater hat, der ein Jahr gespart hat, um auf einer Patera von Mauretanien nach Gran Canaria zu kommen, der zwei von seinen Brüdern, die bereits in Spanien waren, nicht geglaubt hat, dass es gefährlich sei, außerdem keine Arbeit gebe und er besser zu hause bleiben solle, der schließlich alle unheilvollen Warnungen in den Wind geschlagen und eher dem Fernsehen Glauben geschenkt hat, als von seinem Vorhaben abzulassen. Eigentlich habe er mit vier Tagen gerechnet, nach fünf Tagen sei jemand aus Mali neben ihm tot zusammengebrochen, während er sein Schicksal in den restlichen zwei Tagen ohne Essen und Trinken in Allahs Hände gelegt hat und nur noch gebetet hat anzukommen. Da ist die Geschichte eines Restaurantbesitzers aus Barcelona, der drei papierlose Afrikaner ein Jahr lang beschäftigt, ihnen faire Löhne, Weihnachtsgeld und eine Unterkunft bezahlt habe, der erwischt worden wäre, nun eine Strafe von 20.000 Euro begleichen und das Restaurant folglich aufgeben müsse. Da ist die Geschichte eines Autors, der nach der Wahrheit sucht und die Geschichten der papierlosen Afrikaner dokumentieren möchte, der dringend alle Geschichten auflesen möchte, weil sie herumliegen, wie der buchstäbliche Sand am Meer, der in Begleitung seiner Übersetzerin schwitzend und mit puterrotem Kopf den Strand rauf und runter läuft, der hofft, tagebuchartige Protokolle, um nicht zu sagen, unveröffentlichte innere Monologe der Flüchtlinge abschreiben zu können, der dann jene lebensgefährlichen Reisen sämtlich kund tun möchte, Reisen, die von Hoffnung handeln, von trügerischen Verheißungen, von der Unmöglichkeit, die Meere einzumauern, von trockenen Kehlen, leeren Mägen, gefalteten Händen und prallen Sternenhimmeln, von halsbrecherischen Wellengängen und vagen Aussichten, vom Nicht-Wissen, vom Ungewissen, vom Untergehen, vom Glauben, vom Sterbenkönnen und vom Lebenwollen. ( Aufführungsrechte: Verlag der Autoren) -------------------------------------------------------------------- -------------------------------------------------------------------- Niederlagen Niederlagen wollen eingesteckt sein Niederlagen wollen versteckt sein Niederlagen essen mit dem Besteck Der Sieger; Sieger wollen gut bestückt sein Niederlagen essen gar nichts Niederlagen wollen im Keim ersticken Niederlagen wollen vollstreckt sein Niederlagen wollen kurze Beine haben Niederlagen wollen keine Weile haben Niederlagen werden die letzten sein Sieger wollen wieder fliegen Sieger werden nieder liegen Sieger kennt wer nieder lag Sieger kennt Entscheidungsschlag Sieger lacht zuletzt am Tag Nieder streckt die Nacht den Sieger Sieger isst Tafelspitz Niederlagen sind Mumpitz (aus: LEHM LÜCKE KLASSENBESTER, Gedichte 1986-1999) |
Wollt ihr die totale Sonnenfinsternis? Pfau du Stolz Langeweile 2009 Bei der Arbeit wird gesungen (aus: ANNA UND KEIN GRAMM MEHR, Gedichte und Lieder 1978-1985) |